von Beate Barton
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12 Feb., 2020
Liu war 10, als ich sie im Fach Deutsch übernahm. Liu war chinesischer Abstammung und sollte ihre Note in Deutsch entscheidend verbessern. ‘’Hast du noch Geschwister?’’ fragte ich sie am Anfang der ersten Unterrichtsstunde. ‘’Ja, einen kleinen Bruder und der kippt immer die Milch um’’, erklärte Liu. Ich grinste. ‘’Hast du Freundinnen in deiner Klasse?’’ ‘’Ja, und meine beste Freundin ist sehr groß’’, erzählte Liu weiter. Sie war eher klein und schmal, aber sehr hübsch mit großen braunen Rehaugen und einem zarten Teint. ‘’Das liegt daran, daß sie immer so viele Orangen und Äpfel ißt’’, fuhr Liu fort. ‘’Ach, ja?’’ wunderte ich mich. ‘’Ich dachte, das sei irgendwie Vererbung.’’ ‘’Nein, nein, das liegt an den Orangen und Äpfeln.’’ Lui war sich da ganz sicher. Sie war bereits mit 5 Jahren eingeschult worden. Ich hatte kurz darauf ihre Mutter, eine sehr sympathische Frau, kurz gesprochen. Denn natürlich hatte ich mich gewundert, daßLiu mit 10 Jahren bereits in der 5. Klasse war. Und im Nachhin wundert mich die frühe Einschulung von Liu absolut nicht mehr, denn sie war überaus fleißig und begriff schnell. Ich fragte mich, weshalb sie überhaupt Nachhilfe benötigte, doch ihre Mutter erklärte, die Note 3 müsse unbedingt auf 2 verbessert werden. Okay, das war ja grundsätzlich in Ordnung. Und der Unterricht mit solch einem liebenswerten und fleißigen Mädchen machte natürlich großen Spaß. Doch es gab auch traurige Tage. Mir geht so etwas immer nahe, vor allem bei so kleinen Kindern wie Liu. Wir schrieben den 5. Dezember, einen Tag bevor der Nikolaus die geputzten Stiefel der kleinen Mäuse füllte. Liu betrat ganz normal den Raum und ich wollte sie sofort nach dem Nikolaus fragen. Also begann ich – wie immer - :’’Na, wie war es denn heute in der Schule?’’ ‘’Ja, also die Mutter meiner besten Freundin ist gestern gestorben und die Marie ist so traurig.’’ Eine dumpfe Welle sauste durch meinen Magen.‘’Ach, Gott, das ist ja schrecklich’’, entfuhr es mir. ‘’Äh, also, woran ist sie denngestorben? Ich meine, wie alt war sie denn?’’ ‘’Sie hatte Krebs und ich glaube sie war 40 oder so’’, antwortete Liu. ‘’Und in der Musikstunde haben wir alle geweint und die Lehrerin hat Marie in den Arm genommen.’’ Liu erzählte das so sachlich als sei sie irgendwie traumatisiert. Ich nahm ihre Hand. Obwohl ich mich immer bemühe, die Kinder nicht zu berühren, doch dieses Mal ging es nicht anders. ‘’Und Marie nimmt eine Weile Urlaub von der Schule, oder?’’ fragte ich, besann michdann aber eines besseren und fuhr fort: ‘’Ach, nein, das ist vielleicht gar nicht gut, dann schaltet sie ja überhaupt nicht mehr ab...’’ ‘’Genau das hat unsere Lehrerin auch gesagt’’, bestätigte Liu. ‘’Marie soll lieber zur Schule gehen und wir kümmern uns um sie, dann hat sie wenigstens ihre Freundinnen um sich.’’ Liu blieb ganz ruhig, als sie das sagte. Mein Gott, dachte ich, wie erwachsen und verständig sie reagiert! Doch mir war klar, daß diese Worte mit einer großen Verdrängung einhergingen. ‘’Wie kriegt man Krebs?’’ unterbrach Liu meine Gedanken. Ich holte tief Luft. Langsam begann ich zu antworten, fragte mich aber, wie ich ihr das überhaupt erklären könnte. ‘’Ja, weißt du, technisch gesehen trägt jeder Mensch eine Menge Zellen in sich.’’ Liu nickte, das wußte sie. ‘’Und manche der Zellen werden zuweilen böse, also es gibt dann gute und schlechte Zellen. Und die schlechten Zellen entzünden sich sozusagen und zerstören die guten’’, fuhr ich holprig fort. ‘’Aber warum kriegt man das?’’ Liu beschäftigte das Thema natürlich weiter. Ich machte eine verneinende Kopfbewegung und sagte: ‘’Das kann ich dir leider auch nicht sagen. Alle Menschen, ob gut oder böse, können Krebs bekommen. Es ist halt eine Krankheit, die noch nicht vollkommen erforscht ist.’’ ‘’Bei uns gab es noch nie Krebs’’, fuhr Liu fort. Ich versuchte abzulenken. An regulären Unterricht war heute sowieso nicht zu denken. Ich wußte, daß Lius Geburtstag anstand, deshalb sagte ich: ‘’Weißt du was? Wir machen heute nur noch etwas Schönes. Was hältst du davon, wenn wir die Einladungen zu deinem Geburtstag formulieren? Ohne Deklination oder Konjugation?’’ Liu nickte heftig und wir machten uns an die Arbeit. Ich hatte noch zwei weitere Schüler nach Liu zu betreuen und war zwar froh, mich durch die Konzentration auf die anderen Schüler ablenken zu können, doch das Gespräch mit Liu wirkte natürlich noch lange nach.